Gästebuch

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Gitonia

Athen ist meine Stadt, mit Ihrem Nefos, doch was wie der Name eines Gottes aus der Antike klingt bedeutet lediglich Smog, Athen mit der zerfallenden Akropolis, deren pendelischer Marmor sich nach Jahrtausenden durch die Abgase in Gips verwandelt, dem Stau, der jeden Behördengang zu einer Tagesreise macht, Athen mit seiner Anonymität einer Grossstadt, die aber so anders ist, als die der deutschen Städte weil es sie gibt die nachfolgend beschriebenen. Die “Gitonies” in denen wir Athener leben, wie die kleinen Nachbarschaften genannt werden, und so lebe auch ich in einer Gitonia irgendwo in den Teilen der Stadt, in die sich niemals ein Tourist verirrt und die in keinem Reiseführer aufgeführt sind. Ich lebe in der Nähe der Platia Attikis, doch das tut nichts zur Sache, weil sie sich alle ähneln diese Nachbarschaften in der Betonwüste Athen.
Sie sind verhältnismässig ruhig, die Gitonies, es sind die kleinen Adern dieser Stadt, die ganz kleinen. Etwas abgelegen von dem grossen Lärm und wenn ich bei dem Vergleich zum menschlichen Körper bleiben möchte so gerät man in grössere Adern, wenn man dem Strässchen seiner Gitonia folgt um dann irgendwann auf die Venen zu gelangen, die Hauptverkehrsstrassen welche ins Herz der Stadt führen, dem Omomia-Syntagma-Monastiraki Dreieck. Da die Strassen die Adern und Venen sind, sind die dort fahrenden Autos das Blut welches sich durch die aterienverkalkten Wege Richtung Omomia schlängelt, diesen Platz umkreist um dann auf der anderen Seite das Zentrum wieder zu verlassen. Ich kann mir nicht vorstellen, wo all diese Autos sonst bleiben, es gibt in Athen keine Parkplätze. Aber weg aus dem Höllenlärm, dem Smog, den Autos, dem ununterbrochenen Hupen und den daher hetzenden Menschenmassen in die Ruhe meiner Gitonia...
... wo der Bäcker jeden kennt, und die Frauen ihre Lammkeule mit geviertelten Kartoffeln im Zitronen-Oregano Saft auch heute noch auf grossen Backblechen im Ofen der Bäckerei garen lassen, weil es einfach besser schmeckt. Wo die Menschen im Sommer vor Ihrem kleinen Laden sitzen, während der Kafetzis (Kaffeehausbesitzer) sie mit Kaffee und Getränken versorgt. An seinem Tablett ist mit drei Drahtseilen ein Ring befestigt, durch den er es am Finger schwingen lässt. Zwei Stühle, ein Hocker für das Tavlibrett und den Kaffee, der Bordstein vor dem Laden im Keller wird zum Wohnzimmer, Kunden sind lästige Störenfriede, im Eifer des Spiels und der hitzigen Diskussion.
Es steht ein Bäumchen auf dem Bordstein, in einer Aussparung des Bodenbelags, gehegt und gepflegt von den Mietern dieses Strassenabschnittes. Es kämpft gegen die Autos, die es auf Suche nach einem der wenigen Parkplätze ständig verletzen. Es kämpft mit seinen paar Blättchen einen verlorenen Kampf gegen den Smog, der auch uns Menschen das Leben zu Hölle macht und unser fast unbezahlbares Badewasser nach einem Einkaufsbummel zur schwarzen Brühe werden lässt, wenn wir das an uns haftende Nefos abgewaschen haben. Und dennoch wird das Bäumchen gepflegt und gegossen, versucht den Kampf zu gewinnen, wie es auch die Menschen dieser Stadt versuchen.
Sie ist laut, meine Stadt. Ihr Asphalt und die vielen, meist illegal und planlos erbauten, sechs bis sieben Stockwerk hohen Mehrfamilienhäuser, deren einst schneeweisse Fassaden heute durch die Abgase ergraut sind,  verstärken den Lärm und das Hupen der Autos, so dass eine Sommernacht nur bei geschlossenem Fenster und eingeschaltetem Ventilator erträglich ist, wenn man nicht über die finanziellen Mittel verfügt seinen eh schon viel zu kleinen Balkon mit dem Aussenteil einer Klimaanlage zu verunstalten. Es ist zwar im Vergleich zum Zentrum fast eine Idylle hier, aber dennoch ist es laut, verglichen mit deutschen Städten. Und wieder einmal türmt sich der Müll am Strassenrand, da die Athener Müllmänner im Kampf um höhere Renten in den Arbeitskampf getreten sind, wie immer im Sommer, wenn das Druckmittel durch den Gestank der verwesenden Abfälle besonders gross ist.
Hellhörig sind die Häuser. Ihre Badezimmerfenster sind meist in Richtung des “Fotagogos” ausgerichtet, einem Lichtschacht auf der innenliegenden, der Strasse abgewandten Seite der Wohnungen. Hier lernt man seine Nachbarn kennen, die genau wie ich, die wenigen kühlen Morgenstunden des heissen Athener Sommers ausnutzen und sich bei offenem Fenster waschen. Und so kenne ich sein Gurgeln, jeden Morgen gurgelt Herr Michalis, bekleidet in einem weissen Unterhemd und Unterhose im mir gegenüberliegendem Badezimmerfenster, während ihm seine Frau Eleni zuruft, dass sie den Kafedaki auf dem Balkon serviert hat. Auch unser Haus hat ein begehbares Dach, wie die meisten in der Stadt, eine Etage über der Endstation des kleinen Aufzuges, der meistens defekt ist und dessen Typenschild ein Baujahr ausweist, das sich nur ein paar Jahre   von meinem Geburtsdatum unterscheidet und somit mein Vertrauen in die kleinen Kabine schmälert. Ein Dach mit Wäscheleinen aus Draht, die bei dem ständigem Smog niemand nutzen mag. Und wenn ich an das Dach unseres Hauses denke, so fallen mir die tausende Fernsehantennen ein. Athen ist eine Antennenstadt, jede Wohnung scheint eine eigene zu besitzen.
Ich kenne die Streitigkeiten meiner Wohnungsnachbarn. Wenn Sie sich anschreien habe ich das Gefühl zwischen ihnen zu stehen, so dünn sind die Wände. Der kleine Kosta in der Wohnung über mir wird Tag für Tag genötigt auf dem Klavier zu üben. Und es ist immer die gleiche Stelle auf der Tonleiter, wo er eine kurze Denkpause macht, einen Bruchteil einer Sekunde nur, um dann mit seinen kleinen Fingerchen doch den falschen Ton anzuschlagen, seit Wochen, seit Monaten, immer der gleiche Fehler und ich höre es, ob ich mag oder nicht, ja ich wäre enttäuscht, wenn er ohne zu verharren die richtige Note treffen würde. Die Dame in der Wohnung gegenüber ist weit über 80, aber ich weiss immer, dass sie lebt, pünktlich zu den Antenna-Nachrichten, da sie just in diesem Moment die Lautstärke Ihres Fernsehapparates so hoch dreht, dass ich mich bei meinem eigenen Gerät mit dem Bild begnügen kann, der Ton kommt, zeitlich um eine Millisekunde versetzt, aus der Wohnung der alten Dame.
Über die Marmorstufen gelange ich ins Erdgeschoss und verlasse das Haus. Die beiden sitzen schon vor Ihrem Tavli, wie jeden Tag. Sie haben es sich gemütlich gemacht, genau an der Grenze zwischen Kosta’s Betten- und Zubehör Laden und dem kleinen Eisenwarengeschäft von Herrn Giorgos. Den Bordstein haben Sie mit teurem Athener Stadtwasser abgespritzt, das soll Frische geben. Rechts an der Wand haben die beiden liebevoll Basilikum Sträucher in ausgediente viereckige Olivenölbehälter gepflanzt, welche sie weiss gekalkt haben und nun geniessen sie die kühlen 25 Grad des Sommermorgens, bevor die unerträgliche Mittagshitze das Tavli Spiel unmöglich macht. Ihre Geschäfte liegen im Souterrain, ein paar Stufen unter der Bordsteinkannte.
Kostas handelt mit billigen Betten, Kissen, Matratzen. Und ich frage mich immer wieder, wie er in dieser Gegend mit so einem Geschäft existieren kann. Dennoch kaufen wir alle bei ihm, aus der Gitonia. Die Menschen hier sind nicht reich und Kosta ermöglicht uns Ratenzahlungen, so dass jeder in seinem grossen Schuldenbuch in irgendeiner Form geführt ist. Die Menschen dieser Nachbarschaft sind ehrlich. Sie zahlen Ihre Schulden, und wenn es nicht geht, weil die Stromrechnung wieder einmal höher als geplant ausgefallen ist, dann hat Kosta Verständnis und vereinbart eine Ratenzahlung der Raten. Obwohl die Mitgift schon lange nicht mehr gesetzlich gefordert ist macht sich Kosta grosse Sorgen um seine beiden unverheirateten Töchter, sorgt sich, wie er sie ohne Eigentumswohnungen als Prika, Mitgift, an den Mann bringen soll...
... Ein Problem, das Herrn Giorgos nicht belastet, da ihm seine Frau zwei Söhne geboren hat. Herr Giogos handelt mit Eisenwaren jeder Art. In seinem Sortiment findet man Werkzeug, Kettensägen, Vorhängeschlösser, Nägel, Schrauben, Haken, Ösen, ein kleiner dunkler Minibaumarkt. Seine Ware geht meisten gegen Bargeld über den Tresen, dennoch lassen wir aus der Gitonia auch hier bei grösseren Anschaffungen anschreiben. Doch an diesem Sommermorgen haben die beiden Ihre Sorgen und Nöte vergessen und spielen Ihr Tavli, wie jeden Tag, seit ich hier wohne. Ich verweile einen Moment, schaue bei dem Spiel zu, und höre wie Herr Giorgos vom Wochenende schwärmt, das er wie immer im nicht sehr weit gelegenen Kalamos am Meer verbracht hat, wo er ein kleines Häusschen mit Mikrogarten und ein altes kleines Boot besitzt. Seine Leidenschaft ist das Angeln und wie jeden Montag erzählt er von seinem riesigen Wochenendfang. Kostas hört dem Anglerlatein aufmerksam zu, wohl wissend, dass es in den attischen Gewässern schon lange keinen Fischreichtum mehr gibt, doch er sieht keinen Grund seinem Nachbarn die Freude an der Erzählung zu verderben. Noch während meine Gedanken am Meer sind würfelt Kostas einen weiteren Sechserpasch und Herr Giorgos bekreuzigt sich und schaut zum Himmel, Anbetracht des unverschämten Glücks seines Gegenspielers.
Ich gehe weiter, mein Ziel ist die U-Bahn, die mich zur Arbeit bringen soll, und der Weg führt mich an dem kleinen Kaffeehaus von Mitsos vorbei. Er steht hinter dem kleinen Tresen und kocht gerade den doppelten “Türkischen”, stark und süss, wie ihn Bettenkosta bestellt hat. “Giassou Germane” ruft er aus seinem kleinen Laden, der gerade einmal 2 Tische und ein paar Stühle hat, und entblösst seinen ganzen Stolz, eine reihe goldener Schneidezähne. Mitsos ist in den späten Fünfzigern und er hat nie geheiratet. Nach vielen erfolglosen Jahren in Australien hat er sich diese kleine Existenz aufgebaut. Man munkelt in der Nachbarschaft, er habe grosse Reichtümer angeschafft im Ausland, sei aber zu geizig anständig zu leben. Und so wird Frau Katrherina von gegenüber nicht müde bei ihren Versuchen ihm eine Ehefrau zu vermitteln, ja es gibt es noch das Proxenio, die Ehevermittlerinnen, auch im Athen des Konsums und des modernen Europas. Giassou Mitso grüsse ich zurück und beschleunige meinen Schritt, verlasse die Ruhe meiner Gitonia biege in eine der Venen ein um vom Athener Sumpf verschlungen zu werden. Ich werde ein Teil der Anonymität dieser Grossstadt, die mich erst am frühen Abend wieder ausspucken wird.

 


copyright Ralf Nicolaus. Veröffentlichung an anderer Stelle nur mit Genehmigung des Autors


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